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Eisenbahn und Fotografie strukturieren die Erfahrung von Wirklichkeit neu

Der Ausschnitt:
Eine Fotografie zeigt nicht nur den visuellen Aspekt der Wirklichkeit als einzig noch sinnlich erfahrbaren, sondern
grenzt wiederum aus diesem sichtbaren Teil durch die Wahl eines Ausschnittes Wirklichkeit aus.
Das im Ausschnitt eingegrenzte wird sozusagen eingerahmt und erscheint damit geordneter.
Auch ohne den Einsatz kompositorischer Mittel entsteht eine Art Bildaufbau, der den Betrachterblick fast
automatisch führt.
Mit dem Eingrenzen innerhalb eines Ausschnitts wird gleichzeitig die Fülle an Detailinformationen verringert, die das
Auge gleichzeitig oder nacheinander bewältigen müsste, befände man sich tatsächlich in dem abgebildeten Stück
Wirklichkeit. Der Blick wird sozusagen konzentriert.

Nicht nur, dass der Gesamteindruck einer Situation eher hergestellt und der Wunsch nach Übersicht schneller
befriedigt werden kann, weil die Wirklichkeit durch den Rahmen beschnitten wird --- die Linie, an der das Bild nicht
nur aufhört, sondern an der es auch beginnt, definiert die Welt als eine des Bildfeldes, die sich mit diesem Feld
dann auch schnell zu arrangieren scheint.

Da unsere Augen zwar nach physikalischen Gesetzen arbeiten, unsere Wahrnehmung aber eher nach bedeutungs-
perspektivischen als nach zentralperspektivischen Maßstäben (wie Fotooptik) organisiert ist, ---
und dieses "Dilemma" erfährt jeder Knipser auf sehr schmerzliche Art, wenn er feststellt, das grandiose, erhabene
Alpenpanorama ist auf dem Foto zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft ---, setzte sich in der Landschaftsfotografie
sehr schnell als Stilmittel der "Rahmen im Rahmen" durch.
Um zu vermeiden, dass die Objekte in der Ferne derartig geschrumpft erscheinen (Größenabfall der Proportionen)
betonte man in der Komposition der Fotos die Distanz, die sie so klein werden ließ, durch Hereinnahme eines
Gegenstandes im Vordergrund.
Wenn in der Amateurfotografie diese Funktion meist von der Ehefrau oder Freundin ausgefüllt werden muss ---
Mann braucht ja ein Alibi für dieses Foto --- werden als professionelle Mittel der Inszenierung oftmals die absurdesten
Kamerastandpunkte gesucht, damit z. B. die von oben ins Bild hängenden Äste eines Baumes den freien Blick
durchbrechen und so einen zusätzlichen Raum schaffen.

Das Ausschnitthafte der sichtbaren Wirklichkeit im Foto findet seine Entsprechung im Blick des Reisenden aus dem
Zugfenster. Sichtbare Wirklichkeit wird eingegrenzt, geordnet. Die Landschaft wird zum Bild.
Gleichzeitig verursacht die Eingrenzung des Blickfeldes eine zusätzliche Beschleunigung der vorbei huschenden
Landschaft, welche die Flüchtigkeit der Bilder nochmals vergrößert.

Schivelbusch beschreibt sehr wortreich, wie die Eisenbahn eine neue Landschaft "inszenierte", wie die Landschaft
zu einer "durch Bewegung konstituierten Szenerie" wurde.

Die Flüchtigkeit des Vordergrundes erzwang die Erfassung des Ganzen, einen Überblick, ein Panorama und machte
dies andererseits aber eben auch erst möglich.
Diese Tatsache wurde von einigen fortschrittlichen Geistern dieser Zeit überaus positiv gewertet.
Sofern diese Reisenden nicht mehr am Realitätskonstrukt der vorindustriellen Reiseerfahrung orientiert waren,
sondern bereits eine dem neuen Transport, der neuen Geschwindigkeit entsprechende Wahrnehmung entwickelt
hatten, konnten sie sich auch der Lust am Sinnesrauschen hingeben.


Lust und Bewegung

Neben der von vielen beschriebenen Angst, die die Maschine und die Geschwindigkeit, die sie herstellte, hervorrief
und die zu deren Dämonisierung und Mythologisierung führte, die bis heute anzuhalten scheint, findet sich jedoch
auch sehr früh die Beschreibung des Lustcharakters der Bewegungsempfindung und der Verbundenheit mit der
Maschine.

Stellte sich beim Anblick von Kolben und Zylindern fast automatisch Assoziationen zum Geschlechtsverkehr ein,
so trug auch das unmittelbare Erlebnis der Maschine und der Fahrt starke erotische Züge.

"Ruhig, glücklich, losgelöst von der Welt lebte er nur auf seiner Lokomotive. Trug sie ihn im Beben ihrer Räder mit
voller Geschwindigkeit dahin, hatte er die Hand am Steuerungsrad, völlig in Anspruch genommen vom Aufpassen
auf die Strecke, nach den Signalen spähend, dann dachte er gar nicht mehr, dann atmete er in vollen Zügen die reine
Luft, die stets mit Sturmesstärke wehte."
schreibt Emil Zola in `Das Tier im Menschen`.
Der hier beschriebene Lokomotivführer erlebt einen glücklich losgelösten Moment in der völligen Hingabe an die
Maschine und die Geschwindigkeit. Er löst sich auf in der Bewegung, erlebt in der äußersten Konzentration auf die
Strecke eine Ruhe, die ihn den eigenen Körper und die Gedanken vergessen lassen.
Förderlich für diese Ruhe erscheint auch die stets mit Sturmesstärke wehende Luft zu sein, verstärkt sie doch ---
ähnlich wie dies bei Windstille zu erfahren ist --- das Gefühl des stehenden Augenblicks, der stagnierenden Zeit.
In der "körperlichen Vereinigung" mit der Maschine überwindet der Lokomotivführer scheinbar die Getrenntheit,
die diese ursprünglich auf einer anderen Ebene hergestellt hat. Die "Auflösung der Körpergrenzen",
das Einklinken in die Mechanik, verschmilzt ihn auch mit der Energie der Kraftmaschine und beschert ihm so das
Gefühl von Omnipotenz.

(Eine spannende Lektüre hierzu bietet: Klaus Theweleit: Männerphantasien: Ffm. 1978, Bad 1+2)

Die Erfahrung des Lokomotivführers ist jedoch mit der des Im-Abteil-Reisenden dieser Zeit nicht analog; eine
vergleichbare Erfahrung macht vermutlich erst der Fahrer eines Automobils, denn im Gegensatz zur Eisenbahn
war es dem Einzelnen nun möglich, das "pfeilgeschwinde Sausen" selbst zu bewirken.:
Dem im-Abteil-Reisenden war es vorbehalten, sich an der Flüchtigkeit der Bilder, an der Neuinszenierung der
Landschaft, am Überblick, am Panorama, zu berauschen.

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