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Eisenbahn und Fotografie strukturieren die Erfahrung von Wirklichkeit neu -
die sichtbare Wirklichkeit wird von 3 auf 2 Dimensionen reduziert.

Durch die Geschwindigkeit wurde eine erhöhte Anzahl von visuellen Eindrücken erzeugt.
Versuchte der Reisende nach wie vor Nähe und Ferne gleichzeitig zu erfassen, ermüdete er sehr schnell, da die sich ständig
ändernden Entfernungen eine unablässige Anpassungsarbeit der Augen (Akkomodation = Schärfentiefen-Mobilität) erfordert
hätten. Ganz abgesehen von der Geschwindigkeit, mit der die Dinge vorbei huschten und der das Auge unmöglich hätte
folgen können.

Schivelbusch beschreibt sehr wortreich, wie in der Konsequenz das derartig in die Krise gestürzte Bewusstsein, die tradierte
Wahrnehmung, den Blick immer weiter nach draußen lenken musste, um einen Punkt des Stillstandes zu erreichen.
Der so genannte "panoramatische Blick" war zur neuen Natur geworden.

Paul Virilio schreibt in seinem Text zu `Dromoskopie´ im Konkursbuch No. 5:
"Die Antriebsgeschwindigkeit schaffte sich
ihren eigenen Horizont: je höher diese ist, desto weiter ist der Horizont."

Eine Erfahrung von Verflüchtigung des Vordergrundes gab es für diesen Blick nicht mehr, weil die "verflüchtigte Wirklichkeit"
zur "normalen Wirklichkeit" geworden war. Der Vordergrund hatte für den panoramatischen Blick keine Existenz mehr.
Die Maschine, die Bewegung die sie herstellte, war eingegangen in den Blick, der folglich nur noch mobil sehen konnte.

Mobilität, einst Agent der Wirklichkeitsauflösung, war für den panoramatischen Blick die Grundlage der neu normalisierten
Wirklichkeit geworden. Die Mechanisierung der Wahrnehmung war damit abgeschlossen. Durchreister Landschaftsraum war
zur Bilder- und Szenefolge geronnen.
Die Reduktion der sichtbaren Wirklichkeit von 3 auf 2 Ebenen braucht mit Blick auf die Fotografie nicht weiter ausgeführt zu
werden. Auf einem Foto erscheint das Abgebildete sozusagen komprimiert, was ein sofortiges Erkennen erleichtert.
Da alle Gegenstände auf einer Ebene liegen und, egal ob nah oder fern, gleich scharf abgebildet werden können, ist eine
Akkomodation völlig überflüssig.


Die Verkleinerung der Wirklichkeit:

Fotografie und Fahrzeug betreiben durch die In-Distanz-Setzung eine Verkleinerung des als real Erfahrenen.
Ähnlich wie der Ausschnitt - auf einer Fotografie oder durch ein Zugfenster bedingt, ist eigentlich egal - die Quantität der
Eindrücke reduziert, erleichtert die Verkleinerung der Wirklichkeit das Sehen.
Der panoramatische Blick des Reisenden muss sich immer weiter nach draussen wenden, immer entferntere Ziele anvisieren,
um einen Punkt des Stillstandes zu erreichen, einen fast statischen Horizont.
Dem Betrachter einer Fotografie erspart die Verkleinerung der Natur im Foto die Kopfbewegung und weitgehend auch die
Verschiebung der Augenachsen, um das Bild mit einem Blick zu erfassen.
Ein Erfassen der sichtbaren Wirklichkeit "mit einem Blick" ist normalerweise schon deshalb nicht möglich, weil wir nur
im "Zentrum" unseres Gesichtskreises scharf sehen, während das Foto jedoch von Rand zu Rand scharf abbildet.

In der Tat scheinen diese Feststellungen banal, sie belegen jedoch die Tatsache, dass wir das, was wir sehen, wenn wir
neben der Kamera stehen, und das entsprechende Kamerabild sehr unterschiedlich sind. Unser Sehvermögen und das,
was die Kameraoptik leistet, sind völlig anders beschaffen.
Es ist einfach falsch zu behaupten, wir betrachteten ein Bild deshalb als realistisch, weil es eine visuelle Erfahrung, die wir
hätten machen können, annähernd wiedergibt; das Bild liefert dergleichen überhaupt nicht.
Das Bild liefert uns keine "Kopie der äußeren Erscheinung, es ist auch nicht bestrebt, unser Sehen zu duplizieren oder uns
eine Vorstellung davon zu vermitteln, wir wir selbst das auf ihm Gezeigte gesehen hätten:"


In seiner TV-Analyse spricht Günter Anders von der Herstellung der "Nippesversion der Welt" und meint damit die Zurichtung
von "Wirklichkeit" durch deren Verkleinerung im Medium.
Er nennt es eine falsche Übersicht, die uns durch das Abbild geliefert wird. Nicht weil man Einzelheiten übersehen könnte,
sondern weil es vorgibt "uns das Ganze der Welt zu bieten", "die Unübersehbarkeit der Welt zu "übersehen"
(i. S. v. geistig beherrschen)" und deren Größe und Nichtüberschaubarkeit "durch die Tatsache des übersehbaren Modells
" unterschlägt".


Copyright © Erhard Scherpf