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Auto  I   Kino  I  Liebe  I  Zeit und Rausch

Der die Zugfahrt genießende, weil gut gepolsterte und vom Schrecken der Maschine abgeschirmte Reisende und der
frühe "Reisende" in und vermittels der Fotografie und der Fotograf selbst und der Flaneur und der Lokomotivführer und in
gewisser Hinsicht sogar der Body-Builder und auch der rituelle Esser, sie alle scheinen an einem Punkt das gleiche Ziel
der Befriedigung zu haben: die (Wieder-?) Herstellung der harmonischen Verschränkung und Vermischung mit ihrer
Umwelt.
Ob dabei die Rede ist von Verschmelzung, Eins-Werdung, Vereinigung mit dem Göttlichen, Auflösung, sog. "ozeanischen
Gefühlen"
, von den "freundlichen Weiten" des "frühen Glücks", der "Überwindung der Diskontinuität", oder von der sehr
populären "ungeheuren Leichtigkeit des Seins", ist letztendlich nur eine Frage des Diskurses und dessen Begrifflichkeit.

Eines der Momente, das sich durch beinahe alle rauschhaften Erfahrungen und Erlebnisse zieht, das auch
"das Glück dabei gewesen zu sein" auszumachen scheint, ist die Herstellung einer eigenen, subjektiven Zeiterfahrung,
welche in ihrer Richtung fast immer zum Zeitstillstand, zur Zeitlosigkeit, tendiert, oftmals verbunden mit einer vorher-
gehenden oder gleichzeitigen maßlosen Beschleunigung.
Der der Technik inne Zwang zu immer höheren Geschwindigkeiten, die zu immer weiteren Abstraktionen in der
Zeiterfahrung führen --- wie überhaupt die keine Erfahrung nicht tangierende Linearisierung von Zeit --- scheint mir ein
Grund für das Begehren nach (u. U. mit Glückserfahrung verbunden) Momenten subjektiver Zeiterfahrung zu sein,
als einzigem noch möglichen Moment der Eigenwahrnehmung und der einzig möglichen Form Zeit ans sich gewahr
zu werden.
Als Beispiele für die neuerlich zu erbringenden Abstraktionsleistungen in der Zeit-"Erfahrung" seien hier nur zwei Punkte
genannt:
Man bedenke die Paradoxie, dass bei Fernsehübertragungen via Satellit die Stracke zwischen Sende- und Empfangsort
immer länger wird, während sich gleichzeitig die Übertragungsgeschwindigkeit erhöht - die schnellstmögliche Zeit also
nicht mehr auf dem kürzesten Weg zu erreichen ist, sondern die Wege immer länger, die Zeiten aber immer kürzer werden.
Das Gleiche lässt sich in der elektronischen Datenverarbeitung beobachten, wo angesichts von Nano- und Picsosekunden,
deren Dauer weit unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle liegen, von "Erfahrung" sowieso keine Rede mehr
sein kann.

Subjektive Zeit, also z. B. die Erfahrung von "stehender" oder "rasender" oder auch "schleichender" Zeit, widersetzt sich
jeglicher Linearisierung und spottet jeglicher Anschauungsform .Zugrunde gelegt, dass es einen raum-zeitlichen Kontext
gibt, innerhalb dessen Erfahrung möglich ist, scheint die alle Bereiche unserer Realitätserfahrung erfassende Beschleuni-
gung einen zunehmenden Identitätsverlust zu bewirken.

"… und gerade das bringt die Begeisterung hervor. Es ist paradox, wie äußerste Bewegung die Trägheit des Augenblicks
schafft, ja die Augenblicklichkeit den Augenblick."
schreibt Paul Virillio zur Ästhetik des Verschwindens.

Nicht nur, dass die Zeit für den Reisenden im Abteil stillgestellt scheint, während sich draußen die Landschaft in
rasender Fahrt vorbeibewegt --- Mattenklott beschreibt diesen "Stillstand der heftig beschleunigten Zeit" als "spontane
Körpererfahrung"
des Reisenden, bedingt durch die totale Mobilisierung des Außen im Gegensatz zur Erfahrung des
starren Eisenbahnabteils.
Dieses Erlebnis von Ruhe trotz maßloser Beschleunigung erscheint mir jedoch vergleichsweise gering gegenüber dem
viel unmittelbareren Geschwindigkeitserlebnis des Autofahrers, der nicht vorbeigefahren wird an der Landschaft,
sondern selbst hindurchfährt, hineinfährt, und für den das Moment, wo Zeit als stehend, einzig aus dem Hier-und-Jetzt
bestehend, erfahren wird, viel rauschhaftere Züge trägt.
Ähnlich wie der an anderer Stelle beschriebene Lokomotivführer einen Moment der Ruhe in der rasenden Fahrt und in der
absoluten Konzentration auf die Strecke erfährt, scheint das Eingebundene-Sein des Autofahrers jenen Zustand zu
bewirken, der Vergangenheit und Zukunft vergessen lässt und wo nur noch der unmittelbare Augenblick der Fahrt
Bedeutung hat.
Mit der Geschwindigkeit des Wagens scheint für den Fahrer die Möglichkeit einer absolut gesteigerten
Selbst-Wahrnehmung, des Selbst-Inne-Werdens, zu wachsen, und damit gleichzeitig auch die Chance "an nichts zu
denken, nichts zu empfinden, Indifferenz zu erreichen"
, (P.Virillo), sich zu vergessen, ganz in der Fahrt aufzugehen.
Die zunehmende Vereinnahmung der Motorik des Fahrers ist ein weiteres, förderndes Moment. Die Lust einen
Sportwagen zu fahren, im Gegensatz zur Reise in einer Limousine, erklärt sich daraus.
Ebenso kann die Zunahme der von außen kommenden und richtig zu verarbeitenden Sinneseindrücke zur steigenden
Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Vergessenheit beitragen . Eine rasende Fahrt über Landstraßen erfordert mehr
Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelligkeit als eine Autobahnfahrt.

Da, wo die allgemein gesteigerten Geschwindigkeiten und der zunehmende Verlust an sinnlich erfahrbarer Bewegung
eine Selbst-Vergewisserung, Selbst-Erfahrung, nicht mehr ermöglichen, scheint dies einzig noch die Grenzerfahrung
einer rasenden Autobahnfahrt zu bieten --- und dem stehen in dieser Hinsicht das Begehren und die Antriebskräfte der
"Free-Climber" und vermutlich auch der "Jogger" in nichts nach.


Zeit-Erleben und die Liebe:
Eine andere, unserem Alltag enthobene, ebenfalls gesteigerte Selbst-Wahrnehmung und Zeit-Erfahrung können wir in der
Liebe machen.
Über den richtigen Umgang mit der Zeit in der Liebe schreibt P. Lauster: "Während ich intensiv erlebe und ganz in der
Gegenwart aufgehe, ist das Zeitgefühl (das Registrieren einer Zeit) verflogen, und es herrscht Zeitlosigkeit.
Der Zustand der Zeitlosigkeit besteht, wenn ich völlig in der Gegenwart lebe, im Hier und Jetzt aufgehe.
In diesem Zustand gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur intensives Erleben."
Und weiter:
"Das Denken lebt in der Zeit, es wiederholt die Vergangenheit und plant die Zukunft, und es hindert uns auf diese Weise
am Erleben. Das Denken klammert sich an die Zeit, … . Wenn die Zeit an Bedeutung verliert, wenn das Denken still
wird, dann kann die Zeitlosigkeit des Erlebens entstehen."

Die Erotik ist nach G. Bataille jene "Störung des Gleichgewichts, bei der sich der Mensch selbst in Frage stellt …".
Aus der Sehnsucht nach der verlorenen "Kontinuität des Seins" bietet die körperliche Liebe die Möglichkeit der Erfahrung
sich selbst zu verlieren und die Trennung in Subjekt // Objekt für einen Moment aufzuheben, d. h. Kontinuität zu erfahren.

In den erotischen Sittengeschichten Pitigrillis aus dem Italien zwischen den beiden Weltkriegen lässt dieser einmal
eine seiner weiblichen Hauptfiguren zu ihrem Geliebten sagen: "Ich habe dich die Liebe kennen gelehrt.", worauf der bis
dahin in völliger Keuschheit lebende Mann antwortet: "Nein Felka, du hast mich den Tod kennen gelehrt."

Diese in der Liebe erfahrenen Wonne, "die Wonne eines Todesmoments", beschreibt Pitigrill in `Kokain`anhand der
Gedanken und Gefühle seines in Keuschheit gealterten "Helden" während des Liebesaktes:
"In wenigen Augenblicken zogen die Jahre seines bisherigen Lebens an seinem Gedächtnis vorbei, die langen
Betrachtungen in dem einfachen Zimmer, im Garten der Schule, in dem einsamen Säulengang. Ach, das geistige Leben,
die Arbeit, selbst der Gedanke an Gott hatten es nie vermocht, ihn die Materie wirklich vergessen zu machen.
Jetzt verschaffte ihm die Umarmung dieser Frau gänzliches Vergessen von Allem. Der Genuss, der von dem weiblichen
Körper ausging, schleuderte ihn in den absoluten Idealismus. Jetzt, in diesen weiblichen, wollüstigen Armen, hatte er eine
deutliche Intuition des Todes. Er fühlte sich in Bewusstlosigkeit gleiten, untergehen.
Der Schlaf, der Wahnsinn geben keine Vorstellung des Todes. Die Liebe ja. Die Erschütterung aller Nerven,
die Beschleunigung des Herzschlages, das Vergehen des Bewusstseins sind nur eine schnelle Agonie.
In dem Augenblick, in dem man sich außerhalb seines Selbst projiziert, stirbt man ein wenig, macht einen momentanen
Ausflug in den Tod, der umso schöner erscheint, als man zu zweien stirbt und in das Leben zurückkehrt."


Auto, Kino, Zeit und Rausch:
"Was die Massen einst in die Kinosessel getrieben hatte, treibt sie nun auf die Autositze." (Virilio)
Das Zitat von Paul Virilio hebt zwar nicht auf die veränderten Örtlichkeiten ab, an denen wir unsere ersten Erfahrungen in der
körperlichen Liebe machen konnten, sondern er kennzeichnet die neue Chance, als Autofahrer "der Wirklichkeit zu
entkommen, sich berauschen zu lassen, einzutauchen in eine Flut von Bildern, die nichts als Leere zurücklässt durch
Überschüttung mit reiner Fülle.
Kino, TV, die Bilderflut auf der Windschutzscheibe, sie ziehen den Blick fort (und dem Sog eines im Raum laufenden TV
kann man sich nicht entziehen) und lassen die sich nicht mehr lösen könnenden Augen wie im Krampf erstarren.

Aber es ist nicht nur die Lust am Bilderrauschen, sondern vor allem die Macht der Geschwindigkeit dieser Bilder bedingt,
dass der Blick die Gegenstände nicht mehr "im Hin- und Wegsehen" formen kann, sondern sich einverleiben und in einem
"Bilderbrei" auflösen muss.


Der kleine Tod der Abfahrt:

Paul Virilio u. a. beschreiben, dass man früher den an Neurasthenie (Zustand nervöser Erschöpfung) Erkrankten riet,
sie sollten Reisen unternehmen, um zu vergessen.

Ebenso hätte man ihnen sicher die heilende Wirkung des Schlafs (den kleinen Bruder des Todes) oder den "kleinen Tod"
Orgasmus als Möglichkeit zur Auflösung, Verschmelzung, Erfahrung von Zeitlosigkeit, empfehlen können.
Der "kleine Tod der Abfahrt", die Reise, bietet die Möglichkeit "in der raschen Fortbewegung aufzugehen", sich aufzugeben
und die Zeit zu vergessen
Im "reinen Gebrauch der Zeit", also in ihrer sinnlosen Verschwendung, "wenn wir uns weigern, ihr Bedeutung zu geben,
sie mit Namen zu belegen",
also in der "Reise um der Reise willen", wenn das Ziel einzig heißt: "In-Bewegung-zu-sein,
im reinen "Travelling", scheint dieses Glück zu finden zu sein. Es ist "das Glück dabei gewesen zu sein".

Reisen zu können veranschaulicht in diesem Sinne die Vorstellung eines Lebens, das den Tod in sich aufnimmt.

Die Unfähigkeit zur verreisen, über den Punkt hinaus zu schwimmen, an dem unsere Füße den Grund eben noch
berühren, uns fallen zu lassen und rückhaltlos den Extasen der körperlichen Liebe hinzugeben, die Unfähigkeit,
Kontrolle über uns aufgeben zu können, scheint für Christoph Wulf das Produkt des Versuchs,
"den Tod in das Netzwerk der Rationalität und der menschlichen Gesetzte einzubeziehen und ihn so zu domestizieren."

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